Coronavirus: Leben im Sperrgebiet / Plötzlich war er nicht mehr da…

Auszeit – ein paar Tage lang. Einmal durchatmen, keine Ticker lesen. Ausblenden, dass vor wenigen Tagen ein Krankenwagen vor dem Haus stand: Corona-Verdacht bei einem Nachbarn, symptomatisch. Der Test? Negativ. Aber wie zuverlässig ist so ein Test? Es gibt falsch negative Tests. Die Symptome? Laut unserem Nachbarn weiterhin alle vorhanden, eine mögliche Infektionskette aber nicht nachvollziehbar.

Nachvollziehbarkeit der Infektionsketten

Wisst Ihr noch vor ein paar Wochen? Die ersten Infektionsketten in Europa waren halbwegs nachvollziehbar. Eine Chinesin, die nach einem Besuch ihrer Eltern aus Wuhan, so wie geplant auf eine Dienstreise nach Deutschland ging. Geschäftliches, mehr nicht. Ein Webasto-Mitarbeiter steckte sich an, es folgten weitere Ansteckungen. Zunächst 16 Fälle insgesamt, dann war das Thema “Coronavirus” für Deutschland erst einmal erledigt. Eine Verschnaufpause. Kurz. Aber lang genug, um das mit dem Coronavirus erst einmal wieder abzutun.

In der gleichen Zeit immer mehr Erkrankungen in Italien und die dortige Suche nach dem unbekannten “Patienten 0”, zusätzlich eine Vielzahl von Erkrankungen in Heinsberg, bei denen bis heute keiner so genau weiß, woher die ersten Ansteckungen rührten. Ein Familienvater dort über Wochen in Lebensgefahr.

Sterben – Passiert das wirklich nur in Italien?

Aber Sterben? Nur in Italien – das zumindest glauben viele. Militärtransporter, die Leichen abtransportieren. Überfüllte Krematorien, Menschen, die alleine und ohne ihre Angehörigen sterben. Einige hundert Kilometer weiter in Deutschland erste Kämpfe. Nicht ums Überleben, sondern um Toilettenpapier. Verbunden mit Witzen, einer Herabstufung des Virus (“Meine Güte, das ist nichts weiter als eine Grippe”), wildesten Verschwörungstheorien und immer wieder der Ansicht, dass in Deutschland niemand daran sterben werde. Und wenn, dann seien es alte Leute.

Ich habe es schon oft geschrieben: Ja, das Durchschnittsalter der Toten liegt in Italien bei 79 Jahren. Viele haben Vorerkrankungen (hier per Klick mehr zu den Todesursachen und Symptomen). Es gibt aber auch 90-Jährige, die die Krankheit überstehen und Personen unter 50 Jahren, die keiner Risikogruppe angehören, und daran sterben. Einigen von Euch ist der Name Giorgio Guastamacchia vielleicht ein Begriff. Polizist im Personenschutz von Ministerpräsident Giuseppe Conte. 52 Jahre alt, keine Vorerkrankungen, körperlich fit. Ehefrau und zwei Kinder. Dann das Coronavirus, später der Tod. Ein Mensch, keine Zahl.

Ciao GiorgioPolizia di Stato Palazzo Chigi – Presidenza del Consiglio dei Ministri

Gepostet von Giuseppe Conte am Montag, 6. April 2020

Es sind Menschenleben, keine Statistik!

Und auch ältere Personen, die daran sterben, erfüllen keine Statistik. Es sind Menschenleben. Ältere und alte Leben vielleicht, aber eben Menschenleben. Und an die ist – und das ist bei jedem von Euch so – so viel Weiteres geknüpft. Familien, Partner, Freunde. Jeder dieser Menschen hat eine Geschichte. Und diese Geschichten waren häufig noch nicht zu Ende erzählt. Da stand noch das gemeinsame Osterfest an, der gemeinsame Sommerurlaub und so viele weitere schöne Erlebnisse, die irgendwann zu wunderschönen Erinnerungen werden sollten.

Was aber, wenn die bis dahin gesammelten Erinnerungen überlagert werden vom Schrecken der letzten Tage? Dann, wenn dieser Mensch plötzlich mitten aus dem Leben gerissen wird? Auch noch einer, der die Maßnahmen respektiert, nur zum Einkaufen und zur dringend nötigen Physiotherapie überhaupt nach draußen geht. Dann das Gefühl von Schwindel, Kopfschmerzen, leicht erhöhter Temperatur? Ein Erklärungsversuch ist schnell gefunden: die Gartenarbeit, viel Sonne. Was aber, wenn die Beschwerden zunehmen, Verwirrung hinzukommt, die Sauerstoffsättigung fällt? Man denkt nicht an Corona, die Beschwerden sind teils unspezifisch – und es gibt so viele mögliche Gründe. Überarbeitung, vielleicht doch die Sonne bei der Gartenarbeit, vielleicht etwas Falsches gegessen. In vielen Fällen kann das so sein. Doch dann das Testergebis: Der Coronatest ist positiv.

Todesfälle in Deutschland und in Italien im Vergleich

Ich bin mir an dieser Stelle ziemlich sicher, dass mindestens einer an Panikmache denkt. Oder davon ausgeht, dass Leute überall sterben, aber nicht in Deutschland. Zumindest nicht an Corona. Die Zahlen sprechen da mittlerweile eine andere Sprache: Mit Stand vom 13. April 2020, 18 Uhr, sind nach Angaben des RKI 3022 Menschen in Deutschland an Corona verstorben. Hinter jedem dieser Menschen steckt eine Geschichte, so wie die oben genannte. Warum ich auf diese spezielle Geschichte eingehe? Weil der Mann, um den es hier geht, Töchter hat, die ihn schmerzlich vermissen. Eine Ehefrau, die nun alleine weitermachen muss, Enkelkinder, die nun ohne den Opa auskommen müssen. Freunde, weitere Familie – so viele Menschen, die mit seinem Verlust zurechtkommen müssen. Ein Toter mehr? Was macht das schon? Eine ganze Menge! Denn jeder der Menschen, die an Corona versterben, hinterlässt eine schmerzliche Lücke im Leben so vieler anderer Menschen. Und zumindest bei einigen hätte ihr Tod allein dadurch vermieden werden können, dass andere sich an die Regeln halten. Aufs gemeinsame Osterfest verzichten? Man kann doch eine Ausnahme machen! Das Eis? Braucht man einfach, so eine lockere Ausgangssperre schlägt schon mal aufs Gemüt! Auf alles verzichten? Aber man will doch auch leben!

Plötzlich geht es ganz schnell…

Das wollte dieser Mann auch! Ich erzähle die Geschichte, die mir anvertraut worden ist und die ich hier verwenden darf, ganz bewusst anonym. Auch, weil es egal ist, wo dieser Mann gelebt hat. Es ist deshalb egal, weil es sich überall auf der Welt wiederholen kann. Es könnte Euer Vater oder Opa sein, Euer Freund, Euer Ehemann, Eure Frauen, Kinder, Mütter, Großmütter. Der Mann hier, 78 Jahre jung, mit Plänen, mit Familie, benötigte zuerst nur Sauerstoff. Dann eine Verschlechterung seines Zustandes: Verlegung auf die Intensivstation, Intubation, künstliches Koma. Könnt Ihr Euch nur ansatzweise die Angst seiner Familie vorstellen? Tage später ein leichtes Aufatmen: Die Blutwerte haben sich verbessert, er kommt bereits drei Stunden ohne Beatmung aus. Am Folgetag schafft er es nur auf eine Stunde. Tags darauf hohes Fieber, die Nieren setzen aus, dann die Überreaktion des Immunsystems. An dieser Stelle sind die letzten Stunden des Mannes gezählt. Er stirbt am darauffolgenden Abend. Ohne seine Familie, ohne dass ihm seine Liebsten die Hand halten dürfen. Corona-Patient. Vorsichtsmaßnahmen. Niemand kann ihnen beistehen. Ihr würdet nicht alleine sein wollen und Ihr würdet Euren Angehörigen beistehen wollen. Aber Ihr dürftet es nicht!

Der Mann, von dem hier die Rede ist, ist übrigens in Deutschland verstorben….

Gepostet von Coronavirus in Italien am Sonntag, 12. April 2020

Das Virus interessiert sich nicht für…

Dort passiert es vielleicht weniger häufig, aber was ändert das, wenn zwar viele Personen genesen, es aber einen der liebsten Menschen in Eurem Leben trifft? Tröstet Euch dann die Statistik, die besagt, dass die  Todesquote mit “nur” 36 Toten auf eine Million Einwohner (in Italien sind es 329 Tote auf eine Million Einwohner) in Deutschland ja vergleichsweise niedrig ist? Es sind Menschen, keine Zahlen! Und diese Menschen und ihre Familien gilt es zu schützen! Das könnt Ihr dadurch tun, dass Ihr einfach mal für ein paar Wochen verzichtet, auf Euch und andere achtet, Rücksicht nehmt und Euch an die Anweisungen der Behörden haltet. Die sind nicht gemacht worden, um Euch zu quälen, sondern um zu vermeiden, dass andere sich quälen. Dass ihre Familien qualvolle Erfahrungen machen. So wie die dieses Mannes. Es ist übrigens nur bedingt interessant, wie alt er war. Denn seine Angehörigen werden mit seinem Verlust noch Jahrzehnte leben müssen. Und ja, es könnte Euch und Eurer Familie auch passieren – überall. Das Virus interessiert sich nämlich nicht für Euren Wohnort oder Eure Nationalität. Es ist ihm egal, welche Augenfarbe Ihr habt, wie Eure Einstellung ist oder welche Pläne Ihr hattet. Es kann JEDEN von Euch erwischen – ÜBERALL!

An die Tochter dieses Mannes: Vielen Dank, dass ich Eure Geschichte hier erzählen durfte – und vielen Dank auch für das mir entgegen gebrachte Vertrauen. Ich wünsche Dir und Deiner Familie von Herzen alles Gute und hoffe sehr, dass Ihr den dringend benötigten Halt findet! 

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Ihr könnt diese Seite natürlich auch ganz einfach teilen, falls Ihr Freunde oder Bekannte habt, die sich für die Situation in Italien interessieren. Passt auf Euch auf! <3

Gepostet von Coronavirus in Italien am Samstag, 14. März 2020

13. April 2020: Die Zahlen des Tages

Diese Zahlen gab der Zivilschutz am heutigen Abend bekannt:

  • 566 Tote (20.465 Tote insgesamt in Italien).
  • 3153 neue Coronafälle (jetzt insgesamt 159.516 Infektionen)
  • 35.435 Personen gelten als geheilt
  • 103.616 Personen sind aktuell erkrankt (3260 Personen befinden sich in einem kritischem Zustand)

Eine leichte Entspannung zeichnet sich somit bei den Intensivbetten ab, da es auch schon weit über 4000 Personen in einem kritischen Zustand gab). Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass auch im vergangenen 24-Stunden-Zeitraum wieder 542 Personen verstorben sind.

Positiv jedoch der Verlauf bei den Genesenen: über 2000 Personen haben die Erkrankung überwunden. So viele Genesene gab es hier in Italien in einem 24-Stunden-Zeitraum noch nie.

Situation bei uns in den Marken

Bislang wurden 5381 Personen in den Marken positiv getestet (davon sind 713 Personen im Alter zwischen 27 und 97 Jahren verstorben, 1588 Personen gelten in den Marken als genesen oder aber haben das Krankenhaus nach dortiger stationärer Behandlung verlassen können (beide Personengruppen werden hier nun zusammengezählt, so dass NICHT mehr klar ersichtlich ist, wie viele Personen sich komplett erholt haben). Die erste Person in den Marken wurde am 25. Februar 2020 positiv getestet.

Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerungszahl in den Marken von 1.525.271 Personen beträgt das Ansteckungsrisiko derzeit 1: 283Da in Italien davon ausgegangen wird, dass die Dunkelziffer der positiven Personen in etwa zehnmal so hoch ist, ist auch das Ansteckungsrisiko um ein Vielfaches höher als hier angegeben.

Aktuell sind 1067 Personen in den Marken wegen des Coronavirus in den Krankenhäusern untergebracht. 108 liegen auf den Intensivstationen, 241 weitere auf der Intensivzwischenpflege.

Ihr Lieben! Wir wünschen Euch ein wunderschönes und gesegnetes Osterfest! ???? Wir sind froh, dass wir dieses Jahr so…

Gepostet von Coronavirus in Italien am Sonntag, 12. April 2020

Unser Osterwochenende

Erpresserbrief? Nein – Glückwunschkarte!

Das Zittern um den Corona-Test des Nachbarn, noch mehr Vorsicht an den Mülltonnen, die gemeinschaftlich genutzt werden, ein erster Lagerkoller (die Maßnahmen hier werden bis zum 3. Mai 2020 verlängert) und das Bemühen um möglichst viel Normalität. Immerhin ist Ostern. Der Osterhase kommt, es soll ein schönes Fest werden, unsere Tochter soll glücklich sein.

  • Wir haben Blumen bestellt, damit der Balkon wieder besser aussieht, weil Blumen die Stimmung heben (und weil der Osterhase so natürlich auch noch mehr Möglichkeiten zum Verstecken hat).
  • Freitag haben wir uns Essen liefern lassen (leckeres Essen in Kombination mit zu wenig Bewegung ist nicht gut, aber es hat was von Normalität und das Restaurant bietet nicht umsonst einen Lieferservice an: auch da geht es um das Überleben). Unser Menü: Gegrilltes, Pommes, Frittiertes und Eis. (Kein Gemüse, es war wirklich kein Gemüse dabei. – Bis auf die grünen Punkte in dem Frittierten, die das jüngste Familienmitglied dazu verleitet haben, von Anfang an dankend abzulehnen.)
  • Noch ein Bote: Eine Freundin hat aus dem Nachbarort eine Colomba und ein Osterei für die Kleine geschickt (danke, Angela – und nächstes Jahr suchen wir hoffentlich wieder gemeinsam Ostereier!)
  • Bei uns trudelt ein Erpresserbrief ein – er sieht zumindest so aus. Aufatmen: Es handelt sich doch nur um eine weitere Aufmunterung einer Freundin aus Deutschland, die übrigens jeden September zu Besuch kommt. Ob es dieses Jahr wieder klappen wird? Oder doch ein Treffen in Deutschland? Oder gar nicht? Ach, Verena…
  • WhatsApp-Nachrichten ohne Ende: Osterhasen in Tassen, Osterhasen mit Toilettenpapier, tanzende Eier, Kinderfotos… sogar Grüße ohne Bilder. Selten.
  • Ich mag jetzt niemanden von Euch enttäuschen, deshalb hier die kindgerechte Version: Unser Osterhase war in diesem Jahr sehr sportlich und ist bis auf unseren Balkon gehoppelt. (Und er war heilfroh, dass das Osterpäckchen der Großeltern schon vor Wochen angekommen ist – weise Voraussicht!).
  • Bei uns sind drei weitere Playmobilfiguren, Anna, Elsa und Olaf, noch zwei Annas und zwei Svens (warum erwischt man eigentlich immer die gleiche Überraschung in dem Ei?) eingezogen. Und verschiedenen Hasen. Zwei davon sind… ähm… in gewisser Weise bereits wieder ausgezogen und nicht auffindbar (erst kam das knisternde Papier ab und dann…) Dazu übrigens s.o.: Leckeres Essen in Kombination mit zu wenig Bewegung tut nicht gut.
  • Wir treffen uns am Ostersonntag zum Zoomen mit Freunden aus Belgien. Ansteckungsgefahr gleich Null. Mareike, das machen wir noch mal!

Nadine
Über Nadine 313 Artikel
Nadine - Freie Journalistin, Redakteurin sowie Geprüfte Übersetzerin für Italienisch - und Mama einer zweijährigen Kitamaus, die das Leben ganz schön spannend macht.

2 Kommentare

  1. Liebe Nadine,
    danke für diesen bewegenden Bericht.
    Auch ich habe in den vergangenen Jahren liebe – und verhältnismäßig junge! – Menschen an Krankheiten verloren: meine Brüder.
    Jetzt stehe ich manchmal ratlos vor den Zahlen und den Aussagen der „Experten“ und vermisse genau das: den Gedanken, dass hinter jeder Zahl ein Schicksal steht.
    Haltet durch da unten! Es wird wieder aufwärts stehen, und dann können wir gemeinsam trauern um die, die wir verloren haben.
    Ines-Bianca

  2. Das tut mir leid, Ines-Bianca! 🙁 Leider wird so oft vergessen, dass Statistik absolut uninteressant ist, wenn es einen selbst betrifft. Auch dann, wenn die statistische Wahrscheinlichkeit, dass junge Menschen sterben, recht gering ist. Was hilft das, wenn es die eigenen Angehörigen sind? Ganz liebe Grüße, Nadine

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